Digitalisierte Schule?!? Texte des Deutsch-LKs (Bahr)

25.12.2018 | Übersicht

Neu-Isenburg – Wir schreiben den 30. März 2037, Helene-Fischer-Schule in der Bundesrepublik Deutschland.
 

Angstzustände. Schockstarre. Unvorstellbare Neuigkeiten hallen durch das Klassenzimmer der 6c: DAS INTERNET wurde gelöscht. Schuld sind natürlich die modernen Medien, sagt der zuständige Lehrer, die haben das alles automatisch gemacht. Völlig von selbst. Natürlich alles geplant durch die Regierung. Alles Intrigen.
Chemtrails hin oder her, jetzt muss man sich eben auf die guten alten Zeiten berufen, meint er, mindestens genauso frustriert wie die Schüler. Natürlich vergisst Herr Rottenburge nicht, mindestens drei Mal zu erwähnen, dass früher "sowieso alles definitiv besser gewesen ist".
Er versucht, den Radau im Klassenraum zu besänftigen: "Durch eigenes Denken ist noch niemand gestorben." Er habe auch überlebt. Damals. Als alles besser war.
Die Schüler verdrehen höchst interessiert ihre Augen und holen wie ferngesteuert ihre Hightech- Tablets aus ihren Calvin Klein Taschen. Herr Rottenburge schaut sie entsetzt an. „Was macht ihr denn da bitte? Bücher raus!“
Nach kurzer Zeit haben die Kinder ihre Bücher aus ihren Spinden geholt, da sie diese ja nicht mit sich herumtragen wollen. Es könnten ja ihre feinen Taschen und auch ihre feinen Schultern darunter leiden.
Die Bücher liegen jetzt mehr oder weniger ganz auf den Schreibtischen vor den Schülern und werden skeptisch betrachtet.
Da sie gerade das Thema der funktionalen Programmierung behandelt hatten, müssen sie jetzt mit den weniger wichtigen Themen der Allgemeinbildung einsteigen. Deutsche Grammatik.
 
Sie sollen deshalb das dazugehörige Kapitel aufschlagen. „Herr Rottenburge. Ich finde das Thema nicht. Wo kann ich danach suchen? Hier ist ja gar keine Suchleiste… Und überhaupt die Schrift ist viel zu klein für meine Augen. Wie zoomt man denn hier heran?“ Der Schüler ruckelt an seiner großen Sehhilfe.
Nachdem nun die erste Hälfte der Doppelstunde damit verbracht worden ist, das entsprechende Kapitel zu erreichen, muss zuerst einmal eine ausgiebige Pause eingelegt werden. Die Schüler müssen sich von diesen Strapazen erholen und Herr Rottenburge ist mit seinen Nerven am Ende.
Drei Mal musste er erklären, dass man keine Screenshots machen kann – auch wenn man noch so enthusiastisch auf den Seiten herumhackt.
In der Pause jedoch kommen diverse Fragen auf. Ist das Internet nun für immer weg? Was soll man tun, wenn es nie zurückkehren wird? So kann man doch nicht auf Dauer weiterleben. Wie soll man sich die ganzen Informationen eigentlich behalten, wenn man es nicht jederzeit googeln kann? Man kann ja nicht sein Leben lang eines oder gar mehrere Bücher mit sich herumschleppen! Soweit kommt es noch!!
Zweite Stunde, zweites Glück. Jetzt soll eine Aufgabe bearbeitet werden. Gegeben ist ein Text, die fehlenden Kommata mögen doch bitte eingetragen werden. Doch sofort macht sich Verwirrung breit. Die Schüler sind aufgeschmissen: Sie können ja nicht einmal googeln, was „ein Kommata“ überhaupt ist. Klingt wie Koma, aber damit kann es eigentlich nichts zutun haben, rätseln die Schüler. Ihnen macht es wenig Spaß, selbst etwas herausfinden zu müssen. Der Sinn dahinter scheint ihnen verschlossen. Multiple-choice-Aufgaben waren so viel entspannter für sie gewesen. Wenn denn das Internet schon ausfällt – kann man dann denn nicht auch die Schule ausfallen lassen? Das eine funktioniert doch sowieso nicht ohne das andere.
 
Zwischen griesgrämigen Schülern und einem am Boden zerstörten, desillusionierten Lehrer murmelt ein Kind zum anderen:
 
„Aber wozu braucht man dieses Grammatik überhaupt? Lol.“